Primär minimalinvasiv 

Die Gefäßchirurgen in Münster setzen auf Innovation und eigene Forschung. Das wirkt sich sowohl auf komplexe Eingriffe als auch auf Patient*innen und Mitarbeiter*innen positiv aus. 

7min
Matthias Manych
Veröffentlicht am June 14, 2021

Das St. Franziskus-Hospital in Münster, Deutschland, ist sehr wichtig für die regionale Patientenversorgung, genießt aber auch eine internationale Reputation als innovationsorientiertes Krankenhaus. In der Klinik für Gefäßchirurgie entwickelt  Dr. Martin Austermann minimalinvasive Methoden, um Patient*innen schonender, sicherer und wirksamer zu behandeln.

Auf dem Plan des Teams um Privatdozent Dr. Martin Austermann, seit März 2020 Chefarzt der Gefäßchirurgie, steht eine herausfordernde Aufgabe: Bei einer 78-jährigen Patientin muss eine krankhafte Erweiterung der Hauptschlagader im Bereich des Brust- und Bauchraums (thorakoabdominelles Aortenaneurysma) behandelt werden. Dadurch wollen die Ärzte verhindern, dass die Schlagader platzt (Aortenruptur) und die Patientin verblutet. Bei dieser minimalinvasiven Behandlung wird eine y-förmige Gefäßstütze (Stentprothese) in die Hauptschlagader eingesetzt.
Damit die Organe des Bauchraumes und die Nieren weiter durchblutet werden, sind bei dieser Spezialprothese, die eigens für diese Patientin hergestellt wurde, Seitenarme eingebaut.
Diese Seitenarme verlängern die Gefäßchirurgen dann bis in die Zielgefäße der Nieren und Bauchorgane mit sogenannten Brückenstents. Durch die Implementierung der Gefäßstütze wird der Blutfluss von der erweiterten Hauptschlagader ferngehalten – damit ist das Risiko einer Ruptur minimiert. Das alles ist durch kleine Schnitte in beiden Leisten und der linken Achsel möglich, die den Zugang zu den dort liegenden Gefäßen für die endovaskuläre Behandlung ermöglichen. Es ist nicht mehr erforderlich, den Brust- und Bauchraum zu öffnen, was eine erhebliche Belastung für die Patientin bedeutet hätte. Diese Behandlung wird, da sie durch die Arterien durchgeführt wird endovaskuläre Aortenreparatur (EVAR) genannt. Es handelt sich um eine komplexe Behandlung, für die bei dieser Patientin vier Stunden angesetzt sind. 


Bei Prozeduren wie dieser müssen während des Eingriffs (intraoperativ) im OP-Saal wiederholt Angiographien, d.h. radiologische Darstellungen der Gefäße erstellt werden, um die Implementierung überwachen und kontrollieren zu können. Die Strahlenbelastung könnte dadurch sehr hoch sein. Doch das Team und die Patientin profitieren nun vom Einsatz einer Angiographie-Anlage der neuesten Generation. Seit sie im August 2020 in Betrieb genommen wurde, konnten die Gefäßchirurgen schon überzeugende Erfahrungen sammeln, wie Austermann berichtet.

MD Austermann, Muenster
Die Einführung wichtiger Neuentwicklungen hat am St. Franziskus-Hospital eine lange Tradition. In den 24 Jahren seit ihrer Gründung im Jahr 1996 erwarb sich die Klinik für Gefäßchirurgie unter der Leitung von Prof. Giovanni Torsello eine Reputation als eines der innovativsten Zentren. Schon früh galt das besondere Interesse des Teams den minimalinvasiven Therapien. Das resultierte u.a. für die komplexe Aortenchirurgie darin, dass mehrere neue Gefäßprothesen hier weltweit zum ersten Mal implantiert wurden. Ein weiteres wegweisendes Ereignis fand im Jahr 2003 statt: Der erste Hybrid-OP-Saal Deutschlands ging im St. Franziskus-Hospital in Betrieb. Erstmals bot also ein OP-Saal die Möglichkeit der intraoperativen Bildgebung. Damit konnte das Ziel weiterentwickelt werden, Patient*innen so oft wie möglich minimalinvasiv und so wenig wie nötig offenchirurgisch zu behandeln. Und die unmittelbare radiologische Ergebniskontrolle hilft auch, belastende und kostspielige Revisionsoperationen zu vermeiden.
Schon für die Realisierung des ersten Hybrid-Saals im Jahr 2003 bestand von Anfang an eine enge Kooperation mit den Spezialist*innen von Siemens Healthineers. Hierbei erlebten die Gefäßchirurgen vielfältige Unterstützung. „Mehr als andere Firmen hat Siemens Healthineers die Bedürfnisse des Chirurgen verstanden“, stellt Torsello dazu fest. Unter anderem sorgt die bodenmontierte Angiographie-Anlage für eine ungehinderte laminare Luftströmung durch das in der Decke untergebrachte Ventilationssystem. 


Die Kooperation mit Siemens Healthineers war auch wesentlich für die Einrichtung eines zweiten Hybrid-Saals im St. Franziskus-Hospital und setzt sich nun mit einer weiteren Premiere fort: der Installation des neuesten Angiographie-Systems ARTIS icono. Der eingeschlagene Weg, komplexe Krankheitsbilder der gesamten Aorta, der Halsgefäße, aber auch Schlaganfälle und kritische Ischämien der Beine möglichst schonend zu behandeln, wird vom neuen Chefarzt Austermann und seinem Team konsequent weiterentwickelt. Dabei besteht der Anspruch, früh an der Entwicklung medizinisch-technischer Fortschritte beteiligt zu sein. So war es auch bei der neuen Angiographie-Anlage.


Bereits am Prototypen haben die Gefäßchirurgen gemeinsam mit den Expert*innen die Voraussetzung für die Integration der Fusionsbildgebung geschaffen. Die Software erkennt und markiert automatisiert in der vor der OP erstellten CT-Aufnahme Gefäßwände und abzweigende Gefäße. Jetzt lassen sich die CT-Aufnahme, die markierten anatomischen Strukturen und die aktuellen intraoperativen Angiographie-Aufnahmen fusionieren, d.h. übereinanderlegen, oder wie Austermann es beschreibt, „verheiraten“. Die Ärzt*innen können stets überprüfen, ob sie mit dem Katheter und dem Stent an der richtigen Position sind. 

„Jetzt können wir uns darauf verlassen und ersparen uns viele Angiographien“, ergänzt Austermann. Dieser Workflow ist nach seiner Ansicht die „absolute Zukunft und Basis für viele andere Technologien“.

Obwohl die neueste Generation des Angiographie-Systems noch nicht lange am St. Franziskus in Betrieb ist, spürt das gesamte OP-Team deutlich, wie stark sich die Arbeitsabläufe verändert haben. Neben der zeit-, strahlungs- und kontrastmittelsparenden Fusionsbildgebung findet Austermann OPTIQ sehr spannend. Mit dieser Software lässt sich eine bestimmte Bildqualität vorab wählen, woraufhin ein Algorithmus sie während der Bildgebung konstant hält und somit die Strahlendosis optimiert. Eine weitere Workflow-Verbesserung entsteht durch Case Flows. Hiermit können während eines Eingriffs auftretende Situationen vorab definiert werden, sodass die Angiographie-Anlage während der OP die entsprechenden Positionen standardisiert anfährt. Die Gefäßchirurgen haben schon verschiedene Case Flows festgelegt und erwarten dadurch deutliche Arbeitserleichterungen.

Registrierung von CT-Daten im Angio-System 

Schließlich ermöglicht der vollmotorisierte C-Bogen Aufnahmen über 2,10 Meter in der Längsrichtung und Aufnahmen im Fußbereich. Trotzdem ist der Platzbedarf der Anlage so gering, dass sie problemlos in einem kleineren Hybrid-Raum passt.

Um die Versorgung der Patient*innen möglichst evidenzbasiert weiterzuentwickeln, untersuchen die Gefäßchirurgen viele Methoden in eigenen klinischen Studien. Dafür wurde am St. Franziskus-Hospital das Institut für vaskuläre Forschung gegründet. Das Spektrum ist weit gefasst, zurzeit laufen 24 Studien. Ein Beispiel sind die Brückenstents. Sie sind für die Behandlung arterieller Verschlusskrankheiten zugelassen. Nun wird mit einer eigens entwickelten Methode untersucht, ob sie dauerhaft auch den speziellen Belastungen im Bereich der Nierenarterien standhalten.


Dr. Martin Austermann und Dr. Michel Bosiers arbeiten während Interventionen eng zusammen. 

Martin Austermann, MD and Michel Bosiers, MD work closely together during the procedure

Die Bildgebung mit Kohlendioxid ist ein weiteres wichtiges Forschungsthema. Sie spielt besonders bei Patient*innen mit Bluthochdruck und Diabetes eine wichtige Rolle. Da bei diesen Patient*innen die Nierenfunktion verschlechtert ist, kann sich das Risiko für mögliche unerwünschte Nebenwirkungen durch übliche Kontrastmittel erhöhen. Mit einer Registerstudie unter Leitung von Austermann sollen nun der Nutzen und die Sicherheit der CO2-Bildgebung gründlich untersucht werden. Etwa 3000 Patient*innen werden in der Klinik für Gefäßchirurgie jährlich versorgt. Um deren Behandlung weiter zu verbessern, screenen die Ärzt*innen Kongressbeiträge und Publikationen auf Werkzeuge der Zukunft. Ihre Erkenntnisse möchten die Münsteraner Gefäßspezialisten aber auch mit etablierten und Nachwuchskolleg*innen sowie dem Pflegepersonal teilen. Dafür gibt es die Plattform Vascupedia; sie bietet strukturierte Informationen und Austauschmöglichkeiten für angemeldete Nutzer*innen aus aller Welt.

Dabei handelt es sich um eine E-Learning-Plattform, die sich der Gefäßmedizin widmet. Sie wird von Ärzten betrieben und soll praktisches Wissen wie Live-Fälle, Experteninterviews, Leitlinien und einen Überblick über alle aktuellen Techniken und Geräte vermitteln.
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Von Matthias Manych
Matthias Manych, Diplom-Biologe, ist freiberuflicher Wissenschaftsjournalist, Redakteur und Autor mit dem Schwerpunkt Medizin. Seine Arbeiten erscheinen hauptsächlich in Fachjournalen, aber auch in Zeitungen und online.