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Die Geburtsstunde des digitalen Zwillings
Erste Erfolge gibt es bereits. Aber das Konzept stellt besondere Anforderungen an Datenerhebung- und austausch. Zwei Mammutaufgaben.
Kann ein Algorithmus errechnen, welchen körperlichen Schaden der Genuss einer Tüte Chips anrichtet und welchen Nutzen ein grüner Smoothie stattdessen bringt? Und das als personalisierte Prognose für jeden Einzelnen?
Forscher des Weizmann Institute of Science in Rehovot/ Israel haben genau das hinterfragt. Sie statteten 800 Personen eine Woche lang mit Messgeräten aus, die pausenlos deren Blutzuckerspiegel erfassten.
Die Forscher werteten die individuelle Reaktion des menschlichen Stoffwechsels auf 46.998 Mahlzeiten aus. Außerdem sammelten sie Angaben zum Ernährungsverhalten, der körperlichen Aktivität, zur allgemeinen Verfassung sowie zum Mikrobiom der Testpersonen.
Theoretische Szenarien in Echtzeit durchspielen
Reinhard Laubenbacher von der University of Florida schlägt vor, eine ganz ähnliche Technik im Kampf gegen Virus-Infektionen wie Covid-19 einzusetzen.2 Er ist sicher: Wenn man so viele individuelle Patientendaten wie nur möglich sammeln und am Computer verschiedene Modelle über den Krankheitsverlauf durchrechnen würde, ließen sich Zukunftsszenarien in Echtzeit aufzeigen.
Systembiologen wie Laubenbacher versuchen, Beziehungen zwischen Zellen und Organen grundlegend zu verstehen. Ordnet man Daten systematisch, können Zusammenhänge sichtbar werden. Darum liefern Daten wichtige Einsichten, um innovative Medizintechnik oder Medikamente zu entwickeln.
Systembiologie
Und auch, um sogenannte Digitale Zwillinge3 so zu programmieren, dass sie sinnvolle Prognosen liefern, sind Daten grundlegend. Viele Daten. Diverse Daten. Und: das Datenpaket muss ständig weiter angefüllt werden, damit der digitale Zwilling für immer neue Simulationen genutzt werden kann.
Als virtuelle Abbilder eines realen Produkts oder Prozesses enthalten digitale Zwillinge stets grundlegende Informationen zu den Eigenschaften ihres realen Doppelgängers. Die Fertigungsindustrie macht sich das Konzept zunutze: Weil sich jeder Entwicklungsschritt heute an einem virtuellen Abbild vollziehen lässt, kann ein neues oder verändertes Produkt bereits sehr frühzeitig auf Herz und Nieren geprüft werden, ohne materielle Ressourcen zu verschwenden.
Digitaler Zwilling
Jedem Menschen seinen digitalen Zwilling?
Die Technologie des digitalen Zwillings kann industrielle Prozesse also an vielen Stellen bereits verbessern. Die daraus gewonnen Erkenntnisse auf medizinische Einsatzzwecke zu übertragen, ist jedoch ungleich schwieriger.
Um ein allgemeines Abbild eines Patienten zu erschaffen, müssten zunächst neuronale Netzwerke anhand Millionen Datensätzen trainiert werden. Erst im nächsten Schritt könnten diese Daten zu einem holistischen, menschlichen Modell zusammengesetzt werden, um für einen spezifischen Patienten Rückschlüsse zu ziehen, indem es dessen individuelle Ausgangssituation mit ähnlichen Datensätzen vergleicht.
Therapieoptionen, Medikamentengabe – diese Entscheidungen erfordern sehr viel Flexibilität und funktionieren heute oftmals über Trial-and-Error, da Alter, Geschlecht oder genetische Dispositionen neben den komplexen biochemischen Abläufen im Körper, über Erfolg und Misserfolg einer Behandlung mitbestimmen können.
Neurale Netzwerke
Personalisierte Medizin auf dem Vormarsch
Und das nicht mittels Pauschalaussagen über erwartbare Reaktionen in bestimmten Altersgruppen oder Lebenssituationen, sondern in Form einer individualisierten Prognose - beispielsweise hinsichtlich der Nebenwirkungen von Medikamenten. Oder es können anhand des spezifischen Patientenstatus‘ Therapieentscheidungen getroffen werden, weil sich die Reaktion der Behandelten vorab und ohne Risiko vorhersagen ließe. Jedoch solch ein vollständiges, lebensbegleitendes, physiologisches Modell eines Patienten, das mit jedem klinischen Bild, jedem gemessenen Blutwert und jeder abgeschlossenen Untersuchung aktualisiert wird, bleibt vorerst eine Vision.
Digitale Zwillinge einzelner Teilbereiche sind jedoch schon zum Greifen nah. Sie alle unterscheiden sich von herkömmlichen 3D-Modellen durch ihre hohe Dynamik und die Vielzahl der Szenarien, die sich mit ihnen durchspielen lassen.
Organ Modelle simulieren die Struktur und Funktionsweise eines Organs oder eines Organsystems. Disease Models zeigen sämtliche pathologische Prozesse auf, die im Rahmen einer auftretenden Erkrankung beobachtet werden. Und auch im Krankenhausmanagement könnten digitale Zwillinge künftig ihren Platz finden.
Risiken senken, Kosten sparen
Behandlungsentscheidungen erleichtern, Ärzteteams entlasten
Was ist eine Kohortenanalyse?
Eine Familie von KI-gestützten, cloudbasierten Workflow-Lösungen etwa kann Ärzte bei ständig wiederkehrenden Arbeiten entlasten und die diagnostische Präzision bei der Beurteilung medizinischer Bilder erhöhen:
Die Algorithmen des AI Rad-Companion ermöglichen eine automatische Nachbearbeitung von Bilddatensätzen. Und die Applikationen des Pathway Companion unterstützen ein personalisiertes und standardisiertes Patientenmanagement und geben wertvolle Einblicke zur Prozessoptimierung, während Radiologen sich auf die wichtigen Aufgaben im Spannungsfeld der steigenden Anforderungen konzentrieren können.
Was die Zwillinge bremst
Wird unsere Medizin, die heute noch Krankheiten behandelt also bald abgelöst von einer Medizin, die unsere Gesundheit hütet, weil die KI uns individuell und vorausschauend berät? Werden Krankheiten in Zukunft weniger schwer verlaufen, weil wir sie früher erkennen und präziser behandeln können? Möglich – doch dazu müssen nicht nur technologische Hürden genommen werden.
Heute unterhält zwar jedes Healthcare-Unternehmen seine eigene Daten-Infrastruktur, aber in den jeweiligen Daten-Silos verbleiben diese Schätze meist auch. Gründe für die Nichtherausgabe gibt es reichlich: die Sorge um den Datenschutz, die Angst vor dem Datenhunger der Konkurrenz, die Tücken der Technik. Ein Dilemma – denn dieser Informationsschatz würde es ermöglichen, therapeutische Entscheidungen fundierter zu treffen, Nebenwirkungen kleiner zu halten, Kliniken patientenorientierter zu planen und Medizinprodukte passgenauer zu gestalten.
Grundvoraussetzung für die Geburt jedes individuellen virtuellen Doppelgängers ist jedenfalls das Vorhandensein vollständiger, sorgfältig erhobener Daten zum richtigen Zeitpunkt. Und die müssen entlang des Lebenswegs und sogar über den Tod hinaus gepflegt und ergänzt werden – zum Nutzen derer, die nachkommen. Genau hier liegt der entscheidende Punkt: es sind die Daten, die wir hüten wie unseren Augapfel, mit denen die Erstellung eines digitalen Zwillings erst möglich wird.
Zur Brustkrebs-Früherkennung werden Frauen ab Fünfzig regelmäßig zur Mammographie, also zu einer Röntgenaufnahme der Brust, aufgerufen. Je nach individuellen Voraussetzungen kann ein solches Screening zu früh, zu spät oder überhaupt nicht notwendig sein. „Anhand eines digitalen Zwillings kann die Lage besser eingeschätzt werden“, sagt Professor Michael Uder, stellvertretender Ärztlicher Direktor des Uniklinikums Erlangen. Außerdem bekämen Ärztinnen und Ärzte dadurch ein neues Instrument, um eine auf die Patientin exakt abgestimmte Therapie zu finden, so Uder.5
Stark für die Entwicklung eines digitalen Zwillings zur Brustkrebsfrüherkennung macht sich d.hip, ein Kooperationsverbund aus Siemens Healthineers, der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, der Uniklinik Erlangen und dem Medical Valley. In rund fünf Jahren schon sollen Frauen digitale Schwestern an ihrer Seite haben können.
Andrea Lutz ist Journalistin und Business-Trainerin mit den Schwerpunkten Medizin, Technik und Healthcare IT. Sie lebt in Nürnberg, Deutschland. Doreen Pfeiffer studierte Journalismus mit Schwerpunkt auf Medizin/ Biowissenschaften und arbeitet als Redakteurin bei Siemens Healthineers.
- 1https://www.cell.com/fulltext/S0092-8674(15)01481-6, November 2015.
2Reinhard Laubenbacher, James P. Sluka, James A. Glazier: Using digital twins in viral infection. Science, 12 Mar 2021: Vol. 371, Issue 6534, pp. 1105-1106.
3Source: Hirsch-Kreinsen; Kubach, U.; Stark, R.; Wichert, G. von; Hornung, S.; Hubrecht, L.; Sedlmeir, J.; Steglich, S.: Themenfelder Industrie 4.0. Forschungs- und Entwicklungsbedarfe zur erfolgreichen Umsetzung von e 4.0 [“Industry 4.0 talking points. Research and development requirements for the successful implementation of e 4.0”]. Munich, 2019.
4Meyer, K.; Ostrenko, O.; Bourantas, G.; Morales-Navarrete, H.; Porat-Shliom, N.; Segovia-Miranda, F.; Nonaka, H.; Ghaemi, A.; Verbavatz, J.-M.; Brusch, L;. Sbalzarini, I.F.; Kalaidzidis, Y.; Weigert, R.; Zerial, M.: A Predictive 3D Multi-Scale Model of Biliary Fluid Dynamics in the Liver Lobule. Cell Systems 22, (2017) 277–290.